Bevor wir hier unsere eigenen Gedanken teilen, möchten wir gerne die Arbeit von Hanna Egli zu diesem Thema hervorheben, welche ausführlicher und aktueller ist als unsere: https://hannaegli.com/downloads/
Triggerwarnung: Organisierte Rituelle Gewalt, Debatte um Organisierte Rituelle Gewalt, Verleugnung, Therapiefehler
Systematische Satanistische Rituelle Gewalt ist eine Verschwörungstheorie, ein Mythos der auf therapeutische und polizeiliche Fehler, wie suggestive Befragungen, reisserischer Berichterstattung und moralischer Panik fundamentalistischer Bewegungen beruht. Das stimmt. Doch die Verschwörungstheorie der Satanistischen Rituellen Gewalt darf nicht mit der Realität ritualisierter Gewalt, wie sie in organisierten Gewaltstrukturen geschieht, verwechselt werden.
Die unterschiedliche Verwendung verschiedener Begriffe und deren Vermischung stellt eine grosse Herausforderung in der Diskussion um Organisierte Rituelle Gewalt (ORG) dar. So sieht man sich schnell dem Vorwurf begegnet an Pizzagate, einer satanistischer Weltverschwörung, an systematische Menschenopfer und Säuglingsverspeisungen zu glauben, wenn man die Existenz von ORG betont.
In der rec. Reportage «Satanic Panic in der Schweiz – Der Fall Leonie», im Q&A und Podcast zur Reportage wird wiederholt Menschen, die schon bloss die Existenz von ORG betonen entgegengesetzt, dass es keine Beweise für ein internationales Netzwerk von Satanisten gibt oder ihnen wird nachgesagt an diese Verschwörungstheorie zu glauben.
Auch nach der rec. Reportage «Der Teufel mitten unter uns» wurde Kritikern, welche auf fehlende Nuancen hinwiesen, die Unterscheidung zwischen Verschwörungstheorie und existierender Gewalt abgesprochen.
So schrieb die WOZ am 24. Februar 2022: «Auch die weitere Fachwelt wirkt auf einem Auge blind, das zeigt das Beispiel von Jan Gysi, einem der führenden Traumatherapeut:innen der Schweiz. Nach der SRF-Dokumentation meldet er sich mit einer Stellungnahme zu Wort. Gysi kritisiert darin, dass in der Reportage rituelle und satanistische Gewalt gleichgesetzt würden. Damit werde ‘der falsche Eindruck vermittelt, die Fachpersonen seien Anhänger einer Verschwörungstheorie’.
Doch gibt es diese Unterscheidung überhaupt? Spricht die DIS-Fachwelt von ritueller Gewalt, wird der ‘satanistische Missbrauch’ jedenfalls meist mitgemeint – mit all seinen Implikationen.» [1]
Rituelle Gewalt wird vom Fachkreis «Sexualisierte Gewalt in organisierten und rituellen Gewaltstrukturen» wie folgt definiert: «In organisierten und rituellen Gewaltstrukturen wird die systematische Anwendung schwerer sexualisierter Gewalt (in Verbindung mit körperlicher und psychischer Gewalt) an Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen durch die Zusammenarbeit mehrerer Täter_innen bzw. Täter_innennetzwerke ermöglicht und ist häufig verbunden mit kommerzieller sexueller Ausbeutung (Zwangsprostitution, Handel mit Kindern, Kinder-/Gewaltpornografie). Dient eine Ideologie zur Begründung oder Rechtfertigung der Gewalt, wird dies als rituelle Gewaltstruktur bezeichnet.» [2]
Ideologien und Glaubenssysteme werden dazu benutzt minderjährige Opfer von sexuellem Missbrauch zu manipulieren und zum Schweigen zu bringen. Bekannte Beispiel dafür sind: Die systematische Vertuschung von Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche, die Manipulation missbrauchter Kinder bei den Zeugen Jehovas. [3], die Beschuldigungen von Aussteiger*innen der «Children of God»-Sekte [4] und Verurteilung von Mitgliedern [5] [6] sowie der Kidwelly Kult [7]. Weitere öffentliche Fälle findet man beim «Infoportal Rituelle Gewalt» [8]. Weiter gibt es eine Vielzahl von Einzelberichten Betroffener, die von „rituellen/sektenmäßigen Missbrauch“ innerhalb der Familie berichten. [9]
Organisierte sexualisierte Gewalt besteht vorwiegend im Bereich von sogenannten „Kinderporno-Ringen“ bzw. der Kommerzialisierung von Missbrauchsdarstellungen oder Menschenhandel. Das Ausmaß von Missbrauchsdarstellungen im Netz ist beträchtlich. So wurde Anfang der 2000er Jahre schätzungsweise 1’000 bis 20’000 Missbrauchsdarstellungen wöchentlich ins Netz gestellt. [10]. Im Jahr 2017 wurden über 180’000 Fälle von Missbrauchsdarstellungen pro Woche berichtet und es ist von einem exponentiellen Wachstum auszugehen. [11]
In mehr als der Hälfte aller Fälle sind die Kinder weniger als 10 Jahre alt. [11]. Fast ein Viertel des in der EU begangenen Menschenhandels betrifft Kinder, davon 60% zur sexuellen Ausbeutung. [12] Als Beispiel zeigt der Missbrauchsfall von Staufen wie über Jahre extreme sexuelle Gewalt an einem Kind unerkannt bleiben kann. [13]
Betroffene von ORG beschreiben seit frühster Kindheit durch Täter*innen in der Familie massivster emotionaler, physischer und sexueller Gewalt ausgesetzt und an eine Gruppierung gebunden worden zu sein. Die Gewalt führte zu Todesängsten und Nahtoderfahrungen. Absoluter Gehorsam und strikte Schweigegebote wurden verlangt. Später wurden sie dem sexuellen Missbrauch anderer aus der Gruppierung und Dritter ausgesetzt. Letzteres auch oft zu finanziellen Zwecken.
Wissen über die Mechanismen der Dissoziation wurden von Täter*innen genutzt, um mittels Gewalt gezielt Persönlichkeitsanteile für ihre Zwecke zu formen – um Gewalt hinzunehmen und gegenüber der Aussenwelt ein unscheinbares Bild zu präsentieren. Vermittelt wurde den Kindern beispielsweise, dass sie «Opfer seien, um den Teufel zu besänftigen und die Welt vor dem Untergang zu bewahren» oder dass sie einer Elite angehören. Weiter wurde ihnen erklärt, dass sie aus Seiten der Justiz oder Medizin keinerlei Hilfe zu erwarten hätten, da die Gruppierung auch dort Mitglieder eingeschleust habe. Auch wurden bestehende Abhängigkeitsverhältnisse verstärkt, indem Kinder dazu gezwungen wurden eine Täterrolle zu übernehmen. Somit wurde ein Ausstieg aus der Gruppe weiter erschwert. Betroffene gaben an meist auch bei bestehender Therapie Jahre für den Ausstieg gebraucht zu haben. Dieser wird fast nur erreicht, wenn möglichst alle Persönlichkeitsanteile den Ausstieg wollen und erfordert häufig einen langen Prozess, der ohne therapeutische Unterstützung nicht möglich ist. [14] Gerade aber diese Unterstützung wird noch mehr zur Mangelware, durch die Diffamierung von Therapeut*innen, welche bereit sind mit Betroffenen von ORG zu arbeiten.
In der rec. Reportage «Der Teufel mitten unter uns» wird mitunter kritisiert das Anzeigen wegen «Satanistischem rituellen Missbrauch» nachgegangen und ermittelt wird, obwohl es sich dabei um ein Offizialdelikt handelt. Weiter wird das False Memory Syndrom als gegeben und bewiesen angenommen, obwohl die Beweislage für dieses Syndrom bestenfalls fraglich ist. [15] Therapeut*innen werden religiöse Überzeugungen oder finanzielle Interessen unterstellt. Abwechslungsweise werden Menschen, die an systematischen satanistischen sexuellen Missbrauch glauben, und Menschen, die die Existenz rituellen Missbrauchs ausdrücken, gezeigt – ohne dass dabei auf die Unterschiede in konkreter Gewaltform, Prävalenz und Tätermotiven eingegangen wird. Ein Soziologe erklärt, dass es moralisch verwerflich sei, die «dissoziative Persönlichkeitsstörung» zu instrumentalisieren, um Verschwörungstheorien zu verbreiten und Menschen einzureden, sie seien von Satanisten missbraucht worden, als Antwort auf einen Politiker, welcher die Opferzahl ritualisierter Gewalt auf hunderte bis tausende schätzt – was bedeuten würde, dass weniger als 10% der Menschen mit DIS betroffen wären. Der Politiker betont in seiner Stellungnahme am Ende: «Rituelle Gewalt findet nicht zwangsläufig in satanischen Bewegungen statt sondern kann weltanschaulich auch anderweitig eingebettet sein.»
Rehmann betont am Ende, dass er «in keiner Form» abstreitet, dass es organisierten sexualisierten Missbrauch gibt, aber veröffentlicht eine Reportage, die vehement darauf pocht, dass es eine ritualisierte Form organisierten sexualisierten Missbrauchs nicht gibt.
In der rec. Reportage «Jetzt reden die Opfer – ‘Satanic Panic’ in der Schweiz» zeigt sich wiederholt ein mangelndes Verständnis der DIS. So erklärt Rehmann es als auffällig, dass Menschen die von «satanistischen Ritualen» erzählen, häufig eine DIS haben. Rituelle Gewalt wird kategorisch mit der Verschwörungserzählung systematischer satanistischer ritualisierter Gewalt gleichgesetzt. Auch «wissenschaftliche Publikationen», Interpol, UNO, etc. überzeugen Rehmann nicht als wissenschaftlich. Stattdessen bezieht er sich auf drei «ausgewiesene, renommierte Fachexpert/-innen der UPD», welche eine veraltete Prävalenz für DIS angeben (genannt wird 1-50 von 100’000) bei einer tatsächlichen, aber laut Reportage nur von Verschwörungstheoretikern vertretene, Prävalenz von etwa 1% [16]. Die «Fachexpertinnen» nennen Trauma als ein Diagnosekriterium für DIS, welches seit der Einführung des ICD-11 nicht mehr gilt und nennen weiter ihre mangelnde Erfahrung mit DIS-Patienten als Evidenz für das seltene Vorkommen dieser.
Mehrere in dieser Reportage interviewte Menschen, aber auch Leonie aus der rec. Reportage «Satanic Panic in der Schweiz – Der Fall Leonie» berichten von gravierenden Fehlern, Grenzüberschreitungen und suggestiven Arbeitsmethoden in der Therapie. Ich möchte diesen in keiner Weise einer Rolle als Opfer einer Fehltherapie absprechen. Doch regt sich dabei auch bei mir ein Unmut, dass gravierende Fehler, Grenzüberschreitungen und missachtende Arbeitsmethoden keine Beachtung finden, wenn sie Menschen mit DIS und mit extremen Gewalterfahrungen geschehen. Viele Menschen mit DIS, verbringen zuerst Jahre im psychiatrischen System, werden fehldiagnostiziert und fehlmedikamentiert. [17] Unsere Berichte werden missachtet, unsere Bedürfnisse nicht erfüllt und stattdessen werden wir Stigma und Fehltherapie mit gravierenden Folgen ausgesetzt.
Ich zweifle nicht daran, dass es suggestive arbeitende Therapeut*innen gibt, deren Interesse nicht im Wohlbefinden ihrer Klient*innen liegt, welche an Verschwörungstheorien glauben und diese ihren Klient*innen einreden. Genauso haben wir es erlebt, das andere generell nicht an die Existenz einer DIS glauben und der Einstellung sind, dass sexuelle Gewalt an Kindern eine Seltenheit, wenn nicht eine Unmöglichkeit darstellt. Einer abgängigen und hilfesuchenden Person das eigene Weltbild aufzudrücken ist in jedem Fall falsch, egal welches Weltbild dies ist.
Die Suggestion, dass alle Menschen, die von ritualisierter Gewalt berichten, Opfer suggestiver Behandlungen sind, ist genauso fahrlässig wie suggestive Behandlungen an sich. Die Medien kommen hier klar ihrer Sorgfaltspflicht nicht nach, wenn sie sich nicht darum bemühen ein klares und differenziertes Bild mit all seinen Graubereichen zu vermitteln.
Polemik kann hier Menschenleben kosten.
Quellen (aufgerufen 29.01.23):
- Satanic Panic: Der Teufel im Therapiezimmer | WOZ Die Wochenzeitung, Nr. 8 – 24. Februar 2022
- Empfehlungen des Fachkreises »Sexualisierte Gewalt in organisierten und rituellen Gewaltstrukturen« beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, April 2018
- Sexueller Missbrauch an Kindern in der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas, info Sekta, 2017
- Der Lord will Sex, DER SPIEGEL 45/2008, 02.11.2008
- Children of God cult was ‚hell on earth‘, BBC, 27.06.2018
- Children of God cult rapist jailed for ‚horrific‘ offences, BBC, 07.08.2020
- Kidwelly sex cult leader Colin Batley may never be free, BBC, 11.03.2011
- Infoportal Rituelle Gewalt
- Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauch, Bilanzbericht 2019 – Seite 119
- Sexualisierte Grenzverletzungen und Gewalt mittels digitaler Medien, Arne Dekker, Thula Koops & Peer Briken, November 2016
- Rethinking the Detection of Child Sexual Abuse Imagery on the Internet, Bursztein et al., Mai 2019, https://doi.org/10.1145/3308558.3313482
- Third report on the progress made in the fight against trafficking in human beings (2020) as required under Article 20 of Directive 2011/36/EU on preventing and combating trafficking in human beings and protecting its victims, EUROPÄISCH KOMMISSION, 20.10.2020
- Chronologie eines ungeheuerlichen Verbrechens, Süddeutsche Zeitung, 19. Juli 2018
- Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauch, Bilanzbericht 2019 – Seiten 121-126
- Lost-in-the-mall: False memory or false defense?, Ruth A. Blizard, 26 Apr 2019, https://doi.org/10.1080/15379418.2019.1590285
- Dissociative identity disorder: An empirical overview – Dorahy et al., 1.5.2014, https://doi.org/10.1177/0004867414527523
- Diagnostik von Traumafolgestörungen, Seite 111, Jan Gysi 2021
