(p)DIS

(partielle) dissoziative Identitätsstörung
(partielle) dissoziative Identitätsstruktur

Bei einer (partiellen) dissoziativen Identitätsstörung oder -struktur – kurz (p)DIS – besitzt ein Mensch zwei oder mehr Persönlichkeitszustände/-anteile/Innenpersonen/Alter. Jeder dieser hat ein eigenes Ich-Bewusstsein, ein eigenes Erleben, Wahrnehmen, Erfassen und Interagieren mit sich selber, anderen im Innen und Aussen, dem Körper und der Umwelt.

DIS war lange bekannt als “multiple Persönlichkeit” und in Gesellschaft und Psychiatrie besetzt mit vielen unwissenschaftlichen Behauptungen zur Seltenheit, Einredbarkeit, dramatischem Erscheinungsbild und anderen in der Zwischenzeit widerlegten Merkmalen.

Heute wird die (p)DIS verstanden als eine Anpassung der Psyche eines Kindes, dass in traumatisierenden Lebensumständen aufwächst und über eine Auftrennung des Bewusstseins weiterhin funktional bleiben kann.

Die Häufigkeit der DIS liegt bei der Allgemeinbevölkerung bei ca. 1%. [1]

Bei einer DIS können verschiedene Innenpersonen die exekutive Kontrolle über Bewusstsein, Gefühlswelt und Verhalten für verschiedene Aspekte des alltäglichen und nicht-alltäglichen Lebens übernehmen wie Arbeit, Haushalt, Kinderbetreuung, Partnerschaft, Essen, Schlafen, Abwehren von Gefahrensituationen, etc. (Partielle) Amnesien begleiten typischerweise diese Wechsel.
Bei einer pDIS gibt es eine dominante Innenperson, welche von anderen Innenpersonen intrudiert wird – z. B. mit Gefühlen, Bildern, Handlungsimpulsen, etc. Bei einer pDIS übernehmen andere Innenpersonen nur in Ausnahmezuständen für limitierte Zeit die exekutive Kontrolle.
Die Behandlungsempfehlungen für DIS und pDIS sind vorwiegend identisch. Es gibt keine klare Studienlage zur Prävalenz von pDIS – es wird aber angenommen, das pDIS häufiger ist als DIS, jedoch noch auch häufiger unerkannt und entsprechend nicht diagnostiziert wird.

6B64 Dissoziative Identitätsstörung aus der Entwurfsfassung der deutschen Übersetzung des ICD-11 (6B64 Dissociative identity disorder nach ICD-11 der WHO (englisch)):

„Die dissoziative Identitätsstörung ist durch eine Identitätsstörung gekennzeichnet, bei der zwei oder mehr verschiedene Persönlichkeitszustände (dissoziative Identitäten) vorliegen, die mit deutlichen Unterbrechungen des Selbst- und Handlungsgefühls einhergehen. Jeder Persönlichkeitszustand beinhaltet ein eigenes Muster des Erlebens, der Wahrnehmung, der Vorstellung und der Beziehung zu sich selbst, dem Körper und der Umwelt. Mindestens zwei verschiedene Persönlichkeitszustände übernehmen immer wieder die Kontrolle über das Bewusstsein und die Funktionsweise des Individuums in der Interaktion mit anderen oder mit der Umwelt, z. B. bei der Ausführung bestimmter Aspekte des täglichen Lebens, wie Elternschaft oder Arbeit, oder als Reaktion auf bestimmte Situationen (z. B. solche, die als bedrohlich empfunden werden). Veränderungen des Persönlichkeitszustands gehen mit entsprechenden Veränderungen in den Bereichen Empfindung, Wahrnehmung, Affekt, Kognition, Gedächtnis, motorische Kontrolle und Verhalten einher. Typischerweise kommt es zu Episoden von Amnesie, die schwerwiegend sein können.
Die Symptome lassen sich nicht besser durch eine andere psychische Störung, eine Verhaltensstörung oder eine neuromentale Entwicklungsstörung erklären und sind nicht auf die direkten Auswirkungen einer Substanz oder eines Medikaments auf das zentrale Nervensystem zurückzuführen, auch nicht auf Entzugserscheinungen, und auch nicht auf eine Erkrankung des Nervensystems oder eine Schlaf-Wach-Störung. Die Symptome führen zu einer bedeutsamen Beeinträchtigung in persönlichen, familiären, sozialen, ausbildungsbezogenen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.

6B65 Partielle dissoziative Identitätsstörung aus der Entwurfsfassung der deutschen Übersetzung des ICD-11 (6B65 Partial dissociative identity disorder nach ICD-11 der WHO (englisch)):

„Die partielle dissoziative Identitätsstörung ist durch eine Identitätsbeeinträchtigung gekennzeichnet, bei welcher zwei oder mehr verschiedene Persönlichkeitszustände (dissoziative Identitäten) vorliegen, die mit deutlichen Unterbrechungen des Selbst- und Handlungsgefühls verbunden sind. Jeder Persönlichkeitszustand beinhaltet sein eigenes Muster des Erlebens, der Wahrnehmung, der Vorstellung und der Beziehung zu sich selbst, dem Körper und der Umwelt. Ein Persönlichkeitszustand ist dominant und funktioniert normalerweise im täglichen Leben, wird aber von einem oder mehreren nicht-dominanten Persönlichkeitszuständen gestört (dissoziative Störung). Diese Übergriffe können kognitiver, affektiver, wahrnehmungsbezogener, motorischer oder verhaltensbezogener Natur sein. Sie werden als störend für das Funktionieren des dominanten Persönlichkeitszustands erlebt und sind in der Regel aversiv. Die nicht-dominanten Persönlichkeitszustände übernehmen nicht regelmäßig die exekutive Kontrolle über das Bewusstsein und die Funktionsweise der Person, aber es kann gelegentliche, begrenzte und vorübergehende Episoden geben, in denen ein bestimmter Persönlichkeitszustand die exekutive Kontrolle übernimmt, um umschriebene Verhaltensweisen auszuführen, z. B. als Reaktion auf extreme emotionale Zustände oder während Episoden der Selbstverletzung oder des Wiederauflebens traumatischer Erinnerungen.
Die Symptome lassen sich nicht besser durch eine andere psychische Störung, eine Verhaltensstörung oder eine neuromentale Entwicklungsstörung erklären und sind nicht auf die direkten Auswirkungen einer Substanz oder eines Medikaments auf das zentrale Nervensystem, einschließlich Entzugserscheinungen, und nicht auf eine Erkrankung des Nervensystems oder eine Schlaf-Wach-Störung zurückzuführen. Die Symptome führen zu einer bedeutsamen Beeinträchtigung in persönlichen, familiären, sozialen, ausbildungsbezogenen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.“

Diagnose

DIS und gerade auch pDIS werden stark unterdiagnostiziert. DIS-Patient*innen waren durchschnittlich 6-12 Jahre in psychiatrischer Behandlung [2] und erhielten 4 andere Diagnosen [3], bevor sie eine akkurate Diagnose erhielten.

Die häufigsten Fehl- oder unzureichenden Diagnosen sind:

– Borderline-Persönlichkeitsstörung (kurz: BPS) [4]
– psychotische Störungen (wie z.B. Schizophrenie)
– Bipolare Störung (insbesondere rapid-cycling)
– komplexe Posttraumatische Belastungsstörung (kurz: kPTBS)
– Depressionen und Angststörungen
– (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (kurz: ADHS))
– (Autismus-Spektum-Störung (kurz: ASS))

Wobei insbesondere kPTBS, wie auch Depressionen und Angststörungen sehr häufig komorbid (heisst: als zusätzliche diagnostisch abgrenzbare Störung) aufkommen. Nicht unüblich ist auch eine komorbide BPS.

Zur Fehldiagnostizierung tragen bei:

– Mangelnde Kenntnis der Behandler*innen über das dissoziative Störungsspektrum
– Existenz vorgetäuschter DIS
– Dissoziativen Symptome werden nicht offen gelegt (oft aufgrund von Scham, mangelndem Wissen und/oder mangelndem Erfragen von Behandler*innenseite) [3]

Allgemeine dissoziative Symptome (welche auf eine dissoziative Störung hindeuten können): [5]

– Fehlendes/verringertes Schmerzempfinden oder Wahrnehmung von Berührungen
– Seh-/Hör-/Sprachverlust
– Dissoziativer Stupor (Zustand psychischer und motorischer Erstarrung)
– Wahrnehmungsveränderung (wie: Sehunschärfe, Tunnelblick, Geräuschüberempfindlichkeit, Tinnitus, Schwindel, Klos im Hals, Schmerzen – v.a. Kopfschmerzen)
– Dissoziative Krampfanfälle
– Taktile Intrusionen (z.B. Gefühl als würde man berührt werden)
– Somatoforme Intrusionen (z.B. Schmerzen ohne körperliche Ursache)
– Depersonalisation (sein selbst, Körper oder Gefühle fühlen sich fremd, unecht, “wie eine Computerspiel-Figur” an)
– Derealisation (die Welt/Umgebung fühlt sich fremd, unecht, “wie in einem Film” an)
– Verlust des Zugangs zu den eigenen Gefühlen
– Verlust des Zeitgefühls
– Anfälle von Bewusstlosigkeit
– Intrusionen/Flashbacks (Nachhall-Erinnerungen von traumatischen Erfahrungen)
– Albträume
– Ambivalenz und Identitätsunsicherheit – sich wie eine ganz andere Person fühlen oder verhalten
– Stimmenhören (z.B. Hören von Kinderstimmen (Lokalisation im Kopf), innere Dialoge oder Streitgespräche, herabsetzende oder bedrohende innere Stimmen)
– als nicht zu sich gehörig oder nicht unter der eigenen Kontrolle erlebtes Sprechen oder Handeln
– Eingegebene oder sich aufdrängende Gedanken oder auch Gedankenentzug
– Gefühle werden als aufgedrängt oder eingegeben erlebt
– Plötzlicher Wechsel im Funktionsniveau (z.B., „Vergessen“ wie man Auto fährt, Computer bedient etc.)
– wiederholte Amnesien (lückenhaftes Zeiterleben, Gedächtnisprobleme und auffällige Erinnerungslücken) im Alltag
– Amnesien über wichtige Lebensereignisse (“Ich weiss das es passiert ist, aber ich habe keine Erinnerungen daran“)
– Amnesien über die ganze oder grosse Teile der Kindheit nach dem 4-6.Lebensjahr

Unspezifische Hinweise auf dissoziative Identitätsstörung [6]

– traumatische Erfahrungen in der Kindheit
– Misslingen vorhergehender Behandlungen
– drei oder mehr Vordiagnosen, insbesondere als „atypische“ Störungen (Depression, Persönlichkeitsstörungen, Angststörungen, Schizophrenie, Anpassungsstörungen, Substanzmissbrauch, Somatisierungs- oder Essstörungen)
– selbstverletzendes Verhalten
– gleichzeitiges Auftreten von psychiatrischen und psychosomatischen Symptomen
– starke Schwankungen und Fluktuationen in Symptomatik und Funktionsniveau

Quellen:

1. Dorahy MJ, Brand BL, Şar V, et al. Dissociative identity disorder: An empirical overview. Australian & New Zealand Journal of Psychiatry. 2014;48(5):402-417.
doi: 10.1177/0004867414527523

2. Brand BL, Loewenstein RJ, Spiegel D. Dispelling myths about dissociative identity disorder treatment: an empirically based approach. Psychiatry. 2014 Summer;77(2):169-89. doi: 10.1521/psyc.2014.77.2.169

3. Reinders, A., & Veltman, D. (2021). Dissociative identity disorder: Out of the shadows at last? The British Journal of Psychiatry, 219(2), 413-414. doi:10.1192/bjp.2020.168

4. Brand BL, Lanius RA. Chronic complex dissociative disorders and borderline personality disorder: disorders of emotion dysregulation? Borderline Personal Disord Emot Dysregul. 2014 Oct 14;1:13. doi: 10.1186/2051-6673-1-13

5. Zusammenstellung aus „Diagnostische Kriterien für die dissoziativen Identitätsstörungen“ (Dell 2001b, 2002) und „Diagnostik von Traumafolgestörungen Multiaxiales Trauma-Dissoziations-Modell nach ICD-11“ (Jan Gysi, 2020)

6. (Zitat aus) Die dissoziative Identitätsstörung – häufig fehldiagnostiziert
Ursula Gast, Frauke Rodewald, Arne Hofmann, Helga Mattheß, Ellert Nijenhuis, Luise Reddemann, Hinderk M. Emrich (2006)